Verklagt mich doch!

Als Blogger ist man ständig Gefahren ausgesetzt. Wenn man sich über Al-Qaida lustig macht, wird man irgendwann geköpft. Wenn man über mexikanische Drogenkartelle schreibt, wird man plattgemacht. Und dann sind da noch die ständigen Abmahnungen und Klagen wegen Urheber- oder Markenrechtsverletzungen, Verleumdung, Beleidigung und Geheimnisverrat.

Letzteres macht mir aber nichts aus.

Nicht nur weil ich Jurist bin und deshalb weiß, daß man Abmahnungen getrost ignorieren kann, sondern weil ich in Italien lebe. Wenn jemand droht, mich zu verklagen, kann ich mit ruhigstem Gewissen rufen: „Gerne. Verklag mich!“ und meine zustellungsfähige Anschrift zur Verfügung stellen. Denn bis die Klageschrift zugestellt wird, wohne ich höchstwahrscheinlich schon wieder woanders.

Italy civil trialsDie durchschnittliche (!) Dauer eines italienischen Zivilprozesses bis zum rechtskräftigen Abschluss beträgt 8 Jahre. Nun sind Zivilprozesse grundsätzlich nicht schnell (das liegt nicht nur an den Gerichten, sondern auch an den beteiligten Parteien und Anwälten, die oft ein eigenes Interesse daran haben, den Fall hinauszuzögern), aber die Grafik rechts zeigt, daß italienische Gerichte sich besonders viel Zeit lassen. Ich selbst habe – allerdings in Deutschland – 7 Jahre als Rechtsanwalt gearbeitet. Hätte ich die gleiche Zeit als Advokat in Italien geschuftet, wäre womöglich an meinem letzten Arbeitstag noch keiner meiner Fälle abgeschlossen gewesen. Das muß unbefriedigend sein.

Als Mario Barbuto vor 12 Jahren Präsident des Zivilgerichts von Turin wurde, entdeckte er daß der älteste der an seinem Gericht noch anhängigen Fälle 43 Jahre zuvor eingeleitet worden war. Da streiten sich wahrscheinlich Generationen von Klägern, Beklagten, Rechtsanwälten, Insolvenzverwaltern, Nebenintervenienten und Streitverkündungsempfängern wie in Charles Dickens Bleak House. Italienweit gibt es einen Rückstand von 5,2 Millionen Fällen.

Das Problem und der daraus zu ziehende taktische Nutzen sind unter der martialischen Bezeichnung „italienischer Torpedo“ auch außerhalb Italiens bekann. Wer z.B. aufgrund einer (Ab-)Mahnung befürchtet, bald vor einem deutschen Gericht verklagt zu werden, reicht vorher in Italien eine negative Feststellungsklage bezüglich des gleichen Streitgegenstands ein. Dann ist das deutsche Gerichtsverfahren erst einmal nachrangig [grob vereinfacht für juristische Laien], bis das italienische Gericht entschieden hat. Und das kann eben dauern.

Es ist also einfach, sich über die italienische Justiz lustig zu machen. Angebracht ist es nicht. Denn von Zeit zu Zeit gibt es hier Verfahren, die mir Anerkennung abringen. Nur zwei Beispiele, allerdings aus dem Strafrecht:

  • Italien ist das einzige Land, in dem Geheimagenten wegen einer der Entführungen von Terrorverdächtigen nach 2001 verurteilt wurden. 2003 wurde Abu Omar von der CIA in Mailand entführt und – über Deutschland – nach Ägypten verbracht. Die italienische Staatsanwaltschaft ermittelte die Täter und deren Identitäten und klagte sowohl die beteiligten Amerikaner als auch Italiener an. Trotz enormen politischen Drucks, das Verfahren einzustellen oder auszusetzen, wurden 23 CIA-Agenten zu hohen Haftstrafen verurteilt (allerdings weigerte sich die italienische Regierung, deren Auslieferung aus den USA zu beantragen). Der ehemalige Direktor des italienischen Militärgeheimdienstes wurde zu 10 Jahren Haft verurteilt, sein Stellvertreter zu 9 Jahren. Deutsche Staatsanwaltschaften legen in solchen Fällen allenfalls pro forma eine Akte an, mit der dann nichts geschieht.
  • In Taranto wurden vor wenigen Monaten 27 Manager des größten Stahlwerks in Europa u.a. wegen fahrlässiger Tötung (Krebs durch Asbest und Umweltverschmutzung) zu Haftstrafen von bis zu 9 Jahren verurteilt. Überall anders wird Umweltverschmutzung verwaltungs- und zivilrechtlich verfolgt und letztendlich mit Geld abgegolten. An die Manager selbst trauen sich außerhalb Italiens nicht viele Staatsanwälte und Gerichte heran.

Von Italien könnte man also auch etwas lernen.

(To the English version of this article.)

Über Andreas Moser

I am a lawyer in Germany, with a focus on international family law, migration and citizenship law, as well as constitutional law. My other interests include long walks, train rides, hitchhiking, history, and writing stories.
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2 Antworten zu Verklagt mich doch!

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